Programmierboom mit Schattenseiten Immer mehr technische Schulden für Cloud-native Unternehmen
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„Cloud-native“ lautet seit einigen Jahren das Zauberwort unserer Branche. In der Cloud für die Cloud entwickelt, so sollen unsere Anwendungen künftig aussehen. Dumm nur, dass dafür die Programmierer fehlen; Arbeitswillige mit entsprechenden Fähigkeiten werden händeringend von allen möglichen Unternehmen gesucht.

Damit in Sachen Cloud-native mehr vorwärts geht, werden Schüler und Studenten nun schon seit geraumer Zeit dazu angehalten, programmieren zu lernen. Bekannte Mediengrößen wie Ranga Yogeshwar rufen dazu auch im Fernsehen auf. Gute Idee eigentlich, doch nicht jeder Interessierte, der sich an Java, Python, PHP und Co. probiert, liefert fehlerfreie (Soft-)Ware. Die Folgen sind bedenklich und noch nicht auf jedem Radar aufgetaucht: technische Schulden.
Technische Schulden oder „technical debt“ bezeichnen technische Design- oder Entwicklungsentscheidungen, die nur einen kurzfristigen Nutzen mit sich bringen, dafür aber langfristige, unerwünschte Konsequenzen. Sie resultieren aus der Entwicklung von Lösungen, bei denen die zukunftssichere Optimierung zugunsten einer schnellen Implementierung vernachlässigt wurde. Technische Schulden stellen damit nach Ansicht vieler Experten ein großes Hindernis für Innovationen und Aufschwung dar – also genau das Gegenteil, was die Alle-sollen-programmieren-können-Propagandisten anstreben.
„Unternehmens-Software muss äußerst zuverlässig sein, da sie für den Geschäftsbetrieb der meisten Unternehmen von zentraler Bedeutung ist. Die Konfiguration und Wartung dieser Systeme kann jedoch sehr komplex sein“, so Narayan Ramasubbu von der Universität Pittsburgh. Er forscht zusammen mit seinem Kollegen Chris F. Kemerer bereits seit längerem ausführlich zu den technischen Schulden. „Software-Teams mit eingeschränkten Ressourcen, die einem geschäftlichen Druck ausgesetzt sind, können versucht sein, Designabkürzungen zu nehmen. Diese Konstruktionsverkürzungen und andere Wartungsaktivitäten tragen zur Anhäufung technischer Schulden bei. Die Ergebnisse unserer Analyse zeigen klar, dass technische Schulden die Zuverlässigkeit von Unternehmenssystemen verringern.“
Jüngste Untersuchungen geben Anlass zur Sorge
Eine ganz frische Studie „The Growing Threat of Technical Debt“ des Spezialisten für Anwendungsentwicklung OutSystems hat die Untersuchungen zu dem Problem auf den neusten Stand gebracht. Die Studie basiert auf einer weltweiten Umfrage unter 500 IT-Führungskräften aus Großunternehmen, Handelsunternehmen und mittelständischen Firmen. Die in Zusammenarbeit mit dem Anbieter Lucid durchgeführte Online-Umfrage fand im Mai dieses Jahres mit Teilnehmern aus Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Portugal, Singapur, den USA sowie den Vereinigten Arabischen Emiraten statt. Die Befragten stammen aus Finanzwesen, Einzelhandel, Gesundheitswesen, Bildung, Unternehmensdienstleistungen, öffentlicher Verwaltung, Medien und Telekommunikation, Versorgung und Immobilien.
Die wichtigsten Ergebnisse:
- Zwei Drittel der IT-Führungskräfte (69 Prozent) erklären, dass technische Schulden ihre Innovationsfähigkeit grundlegend einschränken. Etwas weniger (61 Prozent) sagten, dass diese die Leistung ihres Unternehmens beeinträchtigen. 64 Prozent sind der Meinung, dass das Thema auch in Zukunft großen Einfluss haben wird.
- Unternehmen aller Größen und Branchen investieren Zeit und damit Geld in technische Schulden statt in Innovation und beklagen daraus resultierende Opportunitätskosten, das sind entgangene Erträge im Vergleich zur besten, nicht realisierten Handlungsalternative.
- Im Durchschnitt geben Unternehmen etwa ein Drittel ihres IT-Budgets für den Umgang mit technischen Schulden aus – bei Großunternehmen sind es sogar vier Zehntel (41 Prozent).
„Die Kombination aus altem Code einerseits und der neuen Generation von mobilen Apps, Stack-Applikationen und SaaS-Wildwuchs andererseits raubt Unternehmen Ressourcen, Zeit und die Fähigkeit zur Innovation“, kommentiert Paulo Rosado, CEO und Gründer von OutSystems.
Institutionelle Gründe für technische Schulden
Laut den befragten Managern lassen sich technische Schulden nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Als wichtige Gründe nennen IT-Führungskräfte das Vorhandensein zu vieler Programmiersprachen/Frameworks (52 Prozent), Fluktuation innerhalb des Entwicklungsteams (49 Prozent) und die Inkaufnahme bekannter Fehler, um Release-Termine einzuhalten (43 Prozent).
Die Studie legt auch offen, dass das Aussitzen des Problems eine ganz schlechte Idee ist: Unternehmen zögern laut Studie mit dem Abbau von technischen Schulden und verschärfen damit das Problem. Nur ein Fünftel der Befragten (20 Prozent) meint, dass ihr Unternehmen die technischen Schulden derzeit in den Griff bekommt. Allerdings ist ein Drittel (36 Prozent) optimistisch, dass dies zukünftig gut zu bewältigen sei. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Übrigens: Technische Schulden häufen sich an, wenn Unternehmen wachsen. Großunternehmen geben 41 Prozent ihres IT-Budgets für das Thema aus, kleinere Unternehmen 27 Prozent.
Analysten warnen bereits seit längerem
„Wir beobachten schon seit Jahren, wie sich technische Schulden negativ auf die Fähigkeit von Unternehmen auswirken, Innovationen und Flexibilität zu priorisieren“, berichtet Rui Gonçalves, Partner bei KPMG Portugal. „Dabei sind genau dies entscheidende Faktoren, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen und zu erhalten.“
KPMG ist mit seiner Warnung nicht allein. Auch McKinsey hat im vergangenen Jahr für die Studie „Tech debt: Reclaiming tech equity“ 50 CIOs aus großen Unternehmen befragt. Ein schlechtes Management technischer Schulden behindere demnach die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Die durch alte und veraltete Systeme verursachten Komplikationen könnten die Integration neuer Produkte und Funktionen sehr teuer machen. Und in der Architektur verborgene Herausforderungen könnten dazu führen, dass Projekte das Budget überschritten und Termine nicht eingehalten würden.
„Ein Großteil der Zeit der IT-Mitarbeiter wird damit verbracht, Komplexität von IT zu managen, anstatt innovativ über die Zukunft nachzudenken“, so die Autoren der Studie, Björn Münstermann, Vishal Dalal, Krish Krishnakanthan und Rob Patenge. Dazu komme, dass inkompatible Datenarchitekturen umfassende Analysen verhinderten und somit die Entscheidungsfindung erschwerten.
Konkrete Kosten der technischen Schulden
Von welcher Dimension sprechen wir eigentlich, wenn es um technische Schulden geht? Dieser sehr konkreten Frage ist das Consortium for Information & Software Quality (CISQ) in der Studie „The Cost of Poor Software Quality in the US: A 2020 Report“ nachgegangen, allerdings nur für die US-amerikanische Wirtschaft. Der Report vermittelt dennoch einen Eindruck, von welch großem Problem wir hier sprechen.
Die Auswirkungen einer schlechten Software-Qualität werden darin für 2020 auf etwa 2,08 Billionen US-Dollar taxiert, wie gesagt: allein für die US-Wirtschaft. Erfolglose IT- und Software-Projekte machen davon 260 Milliarden US-Dollar aus (gegenüber 177,5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018), schlechte Qualität von Legacy-Systemen 520 Milliarden US-Dollar (gegenüber 635 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018) und Ausfälle von Betriebs-Software 1,56 Billionen US-Dollar (gegenüber 1,275 Billionen US-Dollar 2018).
Der Spezialist für Online-Zahlungen Stripe prognostizierte bereits 2018 in der Untersuchung „The Developer Coefficient: Software engineering efficiency and its $3 trillion impact on global GDP“ zum Einsatz von Entwicklern in Unternehmen, dass die globalen Kosten für technische Schulden jährlich wenigstens drei Billionen US-Dollar betragen werden, Tendenz stark steigend. Das geht mit den Zahlen von CISQ d’accord.
Auch an den Hochschulen hat man das Problem längst erkannt. Antonio Martini von der Universität Oslo sowie Terese Besker und Jan Bosch, beide von der Technischen Universität Chalmers, haben sich für die Studie „Technical Debt tracking: Current state of practice. A survey and multiple case study in 15 large organizations“ in 15 Unternehmen angesehen, welche Kosten durch Technical Debt verursacht werden. Wichtigstes Ergebnis: Rund 25 Prozent der Arbeitszeit werden auf die Behebung technischer Schulden verwandt, bei den wenigsten jedoch in einer systematischen Weise. 25 Prozent der Arbeitszeit – was das fürs Unternehmen bedeutet, kann sich jeder CIO für sein Unternehmen selbst ausrechnen.
Schulden tilgen: Das empfehlen Analysten
Auch Gartner hat sich im vergangenen Jahr dem Thema gewidmet und die Studie „Manage Technology Debt to Create Technology Wealth“ erstellt. Die beiden Autoren Stewart Buchanan und Chris Ganly geben auch ganz konkrete Warnungen für IT-Verantwortliche ab:
- Die Budgets von CIOs, die Kosten und Risiken managen müssen, sollten keinesfalls gekürzt werden, denn das senke keinesfalls die IT-Kosten. Im Gegenteil: Schnell und vergleichsweise kostengünstig zusammengestellte Anwendungen häufen Technologieschulden an, die später teuer zu stehen kommen.
- CIOs, die technische Schulden verheimlichen, werden sich später damit konfrontiert sehen, dass ihrem Antrag auf Notfallfinanzierung mit Unverständnis begegnet wird.
- Führungskräfte, die für eine kostengünstige Produktion von neuen Anwendungen plädieren, werden sich später für die damit erzeugten technischen Schulden verantworten müssen.
Die Autoren haben neben den Warnungen auch Empfehlungen auf Lager:
- CIOs sollten stets potenzielle technische Schulden anzeigen, nicht nur kurzfristige Verbindlichkeiten. Nur so wird ihr Budget den Anforderungen immer gerecht werden.
- Verantwortliche verhindern technische Schulden, indem sie die Risiken von Alttechnologien bewerten und ausweisen. So können Updates rechtzeitig geplant und unvorhergesehene Notfallrestaurationen verhindert werden.
- IT-Manager sollten die Lebenszykluskosten und Serviceverbindlichkeiten in die Quantifizierung der technischen Schulden einfließen lassen. Nur so liegt dann ein umfassender Plan zur Verringerung der technischen Schulden und damit für die technische wie finanzielle Gesundung der IT-Infrastruktur vor.
Plattform gegen die Schulden
Paulo Rosado, Chef von OutSystems, das die jüngste Studie zu den technischen Schulden finanziert hat, ist der Überzeugung, dass Unternehmen einen ganz neuen Ansatz brauchen, „um technische Schulden zu überwinden und Innovationen in der Geschwindigkeit und Größenordnung einzuführen, die einen Wettbewerbsvorteil ermöglichen“. Er plädiert für den Einsatz einer Applikationsplattform, wie sie auch sein Unternehmen anbietet. Nur so könnten Unternehmen ihren Rückstand aufholen, die neuesten Technologien nutzen und mit sich ändernden Anforderungen des Unternehmens Schritt halten.
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